Der Stoff, aus dem die Träume sind

MIRA STERN liest aus dem ersten Kapitel vor (aus "Liebe mit gemischten Gefühlen")

Textschnipselbilder aus "Liebe mit gemischten Gefühlen"

Die Bilder sind urheberrechtlich geschützt. Copyright:  Mira Stern - 2020

Leseprobe aus "Liebe mit gemischten Gefühlen"

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☼ Vorspann

Es ist Montag. Für manche Geschäfte bedeutet das: Ruhetag. Doch nicht für den kleinen Frisörsalon, der so auffällig farbenfroh angestrichen ist.
Liliane betritt den Pavillon entschlossen, und doch mit gemischten Gefühlen. Sie hat sich entschieden, über eine Schwelle zu treten, die ihr bisher unüberwindlich zu sein schien. Sie wird sich ihren Zopf abschneiden lassen. Den Zopf.
Ursprünglich wollte sie nur wegen der Katze kommen, die sie Ende letzter Woche auf dem Aushang im Schaufenster entdeckt hatte.
Unter dem drolligen Katzenfoto stand: »An liebe Hände abzugeben!« Darunter eine Telefonnummer. Liliane rief spontan an und telefonierte lange mit der Besitzerin der Mieze, die mit eigenartig dumpfer Stimme in den Hörer nuschelte. Liliane vermutete, die ältere Dame wäre krank, und müsse sich deshalb von ihrem Haustier trennen. Sie versicherte ihr: »Ich werde mehr als nur liebe Hände für Ihre Katze haben«, und hoffte, sie damit ein wenig zu trösten.
Die Katzenbesitzerin wollte sich unbedingt in diesem Frisörsalon mit ihr treffen. Liliane fand das höchst ungewöhnlich und fragte mehrfach nach: »Soll ich nicht lieber direkt zu Ihnen kommen?«
Beim ersten Mal überging die Dame die Frage, doch beim zweiten Versuch hieß es: »Nein. Ich will Sie zuerst mal beim Friseur treffen. Nur wenn Sie mir gefallen, nehme ich Sie mit zu meiner Katze.«
Eine harmlose Marotte einer alten Frau, dachte Liliane. Sie war sich absolut sicher, dass die Mieze ein behagliches Zuhause bei ihr finden würde.
Im Stillen schwor sie sich:
… Jetzt. Endlich. Denn ich bin an der Reihe. Es ist an der Zeit, loszulassen. Nun ist es an mir, mich dem Neuen zuzuwenden! Ich habe etwas aufzuholen. Die Lektion dazu war ja wohl mehr als anschaulich! …
Sie schiebt die bedrückenden Erinnerungen schnell wieder beiseite. Die Erfahrung ist noch zu frisch. Es war ja in den vergangenen Wochen keineswegs um Katzen gegangen.
Vielleicht war es bloß ein Zufall, aber die alte Dame brachte mit ihrer Marotte die Kugel ins Rollen. Liliane überkam der unbändige Drang, den fremden Anstoß zu Ende zu spielen.

»Hallo, guten Tag, trau‘n Sie sich ruhig rein!« Die Frisöse reißt sie aus ihren Gedanken. »Sie kommen wegen der Frau mit der Katze, stimmt’s? Sie hat mir schon von Ihnen erzählt. Sie hat mir sogar beschrieben, wie Sie wohl aussehen würden. Wie ich sehe, stimmt das alles haargenau. Dabei kennt die Dame doch nur Ihre Stimme!? … Aber … kennen wir uns nicht irgendwoher?«
»Ja, wir hatten schon einmal das Vergnügen.« Liliane schmunzelt und zeigt nach draußen. »Ich bin die, die Ihnen mal gesagt hat, dass sie für gewöhnlich einen Bogen um Frisörsalons macht.«
Die Frisöse fasst nach dem Namensschild an ihrem Kittel. Sabrina. Sie dreht daran herum, als könne ihre Erinnerung darin verborgen liegen, und solle gefälligst herausspringen wie ein Flaschengeist. Ihre Technik scheint zu funktionieren. »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Inzwischen sind meine Einführungsangebote vorbei. Da gibt’s also nix mehr zu verpassen! Und zu befürchten haben Sie auch nichts!« Sie scherzt und ahnt noch nichts von ihrem Glück.
Liliane lächelt und überrascht Sabrina: »Und dabei wollte ich gerade über einen ganz besonderen Schatten springen. Sie hätten nicht zufällig Zeit, meinen Zopf abzuschneiden?« Sie zeigt auf das geflochtene Schmuckstück, das ihr bis zur Taille reicht.
»Den Ganzen?!«, ruft die Frisöse entsetzt und reißt die Augen dabei weit auf. Sie ahnt nicht, dass sie Liliane dadurch sofort sympathisch wird. Halb schwärmend, halb warnend gibt Sabrina zu bedenken: »Sie haben so schöne lange Haare! Wollen Sie die wirklich abschneiden!?«
»Ich nicht. Ich dachte, Sie könnten das erledigen. Sieht vielleicht besser aus, als wenn ich selber daran herumschnippele. Es wird schließlich eine Weile dauern, bis die wieder nachgewachsen sind. Ich muss dann solange so rumlaufen, wie Sie mich zurichten.« Ihr letzter Satz hat einen spaßigen Unterton.
Sabrinas Stimmung hellt sich auf und überstrahlt ihr Gesicht. Sie weiß ja, was sie drauf hat, und fühlt sich herausgefordert.
Liliane hingegen rutscht das Herz in die Kniekehlen. Sie japst nach Luft und schaut hilfesuchend auf die großen Blumentöpfe neben den Fenstern. Die Pflanzen recken genüsslich ihre Blätter in alle Richtungen. Denen geht‘s hier gut, denkt sie. Und die Vorstellung, dass Sabrina einfühlsam mit ihren Pflanzen umgeht, beruhigt sie. So jemandem kann man sich doch anvertrauen.
Liliane strafft ihre Schultern und hebt das Kinn. Ihre Entschlossenheit kommt zurück. Sie lächelt Sabrina zuversichtlich entgegen und ermutigt sie damit, weiterzufragen.
»Sie wollen die Haare abschneiden und dann gleich wieder wachsen lassen? Sind Sie krank?« Sabrina kichert etwas entschuldigend, dass ihr das so unverblümt rausgerutscht ist, aber Liliane lacht schallend los.
»Könnte man fast meinen, was? Aber nein, ich hab keine Chemo vor mir. Ich muss den Zopf loswerden. Da hängen bestimmte Erinnerungen dran. Die lassen sich nicht so einfach abschütteln.«
»Also gut, wie Sie meinen. Tut mir richtig drum leid. Wollen Sie den Zopf aufheben? So im Ganzen meine ich?«
Liliane schüttelt den Kopf und will schon verneinen, doch dann kommt ihr eine Idee.
»Doch! Ich werde ihn verbrennen. Geben Sie ihn mir im Ganzen mit!«
Jetzt ist sie erst recht bereit, diesen Schritt zu gehen.
Liliane betrachtet sich im Spiegel. Ein letztes Mal streicht sie über ihren langen Zopf und wickelt sich dann das Ende um den Finger. In Kürze wird ihr Haar nur noch bis zur Schulter reichen.
Sabrina sortiert derweil Lockenwickler der Farbe nach vom Frisiertisch in Körbchen, bis nur noch die Schere, ein Kamm und eine Bürste vor ihnen auf dem Tisch liegen.
»Was machen Sie denn beruflich?«, schaltet sie sich in die verstohlene Abschiedsgeste. Sie greift nach dem Zopf und löst die geflochtenen Haare sachte auseinander.
»Seit diesem Monat arbeite ich wieder als Fotografin. Bis vor Kurzem hatte ich eine eigene Grafik-Design-Agentur. Doch das hat sich jetzt erledigt, weil die Auszeit, die ich mir zwischenzeitlich nehmen musste, ihre Opfer von mir gefordert hat. Ich hab wieder und wieder meine Termine verschoben und dadurch die Aufträge an die Konkurrenz verloren.«
»Ach wie schade. Aber Sie finden doch bestimmt nochmal neue Kunden!«
»Will ich gar nicht. Wissen Sie, das ist ein Job gewesen, bei dem ich viel sitzen musste.  Mittlerweile bin ich sogar froh darüber, dass mir die Entscheidung, damit aufzuhören, abgenommen wurde.«
»Ach so? Wie denn das?« Sabrina bürstet die langen Haare, als hätte sie ihre Lieblingspuppe vor sich.
Liliane lächelt und fühlt sich für einen Augenblick in ihre Kindheit zurückversetzt. Anscheinend will Sabrina ihr den Zopf nochmal neu flechten, bevor er ab muss.
»Wieso ich froh darüber bin? Nun ja. Als Fotografin bin ich viel unterwegs. Und ich sehe die Menschen um mich herum inzwischen viel genauer an als noch vor ein paar Wochen. Das ist unglaublich aufschlussreich!«
»Inwiefern?«
»Ich frage mich, was sie wohl für eine Geschichte in sich tragen – wie ihre Augen dazu kamen, so groß aufgerissen in die Welt zu schauen oder sich klein zusammenzukneifen, als wollten sie nichts erkennen.« Sie seufzt und streicht sich ein Strähnchen aus der Stirn, unter dem sich ihre Sorgenfalten versteckt hatten. Sie bemerkt deren unbeabsichtigte Enttarnung, lächelt und nickt ihrem Spiegelbild zu. »Ich betrachte jetzt die Falten an Menschen wie Jahresringe an einem Baum. Ich zähle ihre Erfahrungen und versuche, mir Bilder vorzustellen, die zu ihrem Aussehen passen.«
»Schön! Das mache ich auch manchmal!« Sabrina kichert leise und wartet gespannt auf Lilianes Fortsetzung.
»Man kann sich in Menschen sehr täuschen. Es gelingt nur selten, einen Blick hinter ihre Fassade zu werfen. Doch der Reiz, dahinter blicken zu wollen, bleibt für mich immer bestehen. Außerdem ist meine Neugier erwacht …« Sie holt kurz Luft. »… Seit ich diese seltsame Geschichte erlebt habe, die mich hier in das Wohnviertel geführt hat.«
»Was hat Sie denn hier in dieses Wohnviertel geführt?«
»Eigentlich meine neue Wohnung. Aber dann gleich samt Vermieter!«
»Wie bitte?«
»Ich hab mich in meinen Vermieter verliebt, auf Anhieb!«
»Das müsste mir mal passieren! Kann man danach umsonst wohnen?«
»Nein, das will ich nicht. Noch nicht jedenfalls. Aber man weiß ja nie, was noch kommt.«
Das Schweigen, das einen Moment zwischen ihnen schwebt, flattert. Denn Sabrina will noch etwas wissen. »Was führt Sie denn ausgerechnet zu mir? … Mit Ihrem Wunsch, belastende Erinnerungen abzuschneiden.«
»Genau genommen bin ich ja nur wegen der Katze hier. Dieser seltsame Treffpunkt hat mir den Anstoß verpasst. Mir fehlte der Mut, meine vage Idee umzusetzen.« Sie seufzt und hofft, dass sie der Mut jetzt nicht gleich wieder verlässt.
Sabrina legt den Kopf schief. Sie will mehr erfahren. Ihr fragender Blick lässt Liliane nicht los, zieht ihr die nächsten Worte regelrecht aus der Nase.
»Ich war gerade erst in meine neue Wohnung eingezogen, als ich zufällig Ihren Pavillon entdeckt hatte. Sie waren mir damals schon auf Anhieb sympathisch, ich weiß nicht, wieso. Ich mag die Pflanzen, mit denen Sie sich umgeben. Sie verwandeln das hier in eine kleine Oase. Aber zuallererst hatte mich Ihr kreativer Fassaden-Anstrich angelockt! Den finde ich immer noch grandios.«
»Den hab ich selber gemacht! Sie sind die Einzige, der das gefällt. Die meisten finden das zu knallig und zu kontrastreich.«
Liliane lächelt. Da ist es wieder. Ihr geliebtes Wort. Doch sie schweigt diesmal dazu.
»Wollen Sie mir Ihre Geschichte erzählen? Für so einen drastischen Schritt muss es ja schwerwiegende Gründe geben. Vielleicht verraten Sie mir überhaupt ein bisschen was von sich. Dann tut es Ihnen nicht so weh, wenn Sie sehen, was ich Ihnen antue.«
Sabrina besitzt ein bemerkenswertes Einfühlungsvermögen.
Liliane schweigt wehmütig. Sie mag diese offenherzige Art der Frisöse und ist froh, bei ihr gelandet zu sein.
Ein Stimmchen in ihr spöttelt: »Alles nur wegen einer Katze, die überirdisch niedlich aus einem Foto herausgeschaut hat.«
Ihre Aufmerksamkeit wandert wieder zurück zu Sabrina. »Sie wollen die ganze Geschichte hören? Ich wüsste gar nicht, wo ich da anfangen sollte! Das würde verdammt lang dauern!«
»Und ich liebe lange Geschichten! Wir haben doch Zeit! Bis die Dame kommt, habe ich keinerlei Termine! Ich hab das Geschlossen-Schild soeben hingehängt.«
»Bis die Dame kommt, haben Sie keinerlei Termine?! Ist ja ein merkwürdiger Zufall!«
»Sie sagte, ich solle mir Zeit für Sie nehmen, aber autsch, das sollte ich natürlich nicht verraten! Verdammter Mist!« Sie wedelt mit ihrer Hand, als wenn sie sich verbrannt hätte.
»Wusste die Frau, dass ich mir die Haare schneiden lassen würde?«
»Nein. Das glaube ich eher nicht. Obwohl sie so eine Bemerkung gemacht hat, von wegen, man solle Ihnen vielleicht mal den Kopf waschen. Aber sie hat das ganz freundlich gesagt. Ich sollte eigentlich nur eine geduldige Zuhörerin sein, falls Sie was erzählen wollten.«
»So, so, eigenartig.«
»Nein! Gar nicht. Sie weiß, wie sehr ich Geschichten liebe. Sie kommt ja selber regelmäßig zu mir in den Salon. Manchmal nur zum Waschen und Frisieren. Und zum Erzählen. Ich bin vielleicht nur wegen der schönen Geschichten Frisöse geworden.«
Sie kichern wie Schulmädchen und fühlen sich auf Anhieb einander vertraut.
Liliane schwant aber schon, wer ihr nachher die Katze vorstellen wird. Und auch, warum sich deren Stimme am Telefon so eigenartig dumpf angehört hat. Vermutlich gerade so, als wenn sich jemand einen Schal umgebunden hätte, um nicht erkannt zu werden.
Doch Sabrinas Neugier rauscht ungeduldig hervor. »Wie hat denn das mit Ihnen und Ihrem Vermieter angefangen? Mal so unter Frauen. Ich bin schon so gespannt auf Ihre Geschichte!«
Liliane richtet ihren Blick nach innen und vergisst für einen Moment, warum sie in diesem Salon vor dem Spiegel sitzt, und was Sabrina da hinter ihr vorhat. Sie versinkt in ihren Erinnerungen wie in einem unheilvollen See. Doch sie strampelt und lässt sich nicht runterziehen. Sie enthebt sich dem strudelnden Sog und betrachtet die spiegelnde Oberfläche des Sees aus der Ferne. Sie entdeckt bewegte Bilder, nicht mehr nur die unangenehmen.
Die vergangenen Wochen ziehen an ihr vorüber. Liliane sieht sich vor dem Bild, in dem sie sich bisher gebannt gefühlt hat. So erzählt sie die Erlebnisse, als ob sie aus einem Buch vorlesen würde. Denn ab jetzt sind die Ereignisse Geschichte.

Die eigenwillige Magie der Liebe - Eine Rezension von Christine Striebel

Die eigenwillige Magie der Liebe - Eine Rezension
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